Das Kolleg „Neues Reisen – Neue Medien“
Das Forschungskolleg „Neues Reisen – Neue Medien“ wurde zwischen 2018 und 2023 von der VolkswagenStiftung an der Universität Freiburg gefördert. Es umfasste insgesamt sechs Promotionsprojekte und ein Postdocprojekt: Hier arbeiteten Wissenschaftler*innen aus der Anglistik, Germanistik, Humangeographie, Kulturanthropologie und Medienkulturwissenschaft zusammen. Entsprechend der Förderlinie „Wissenschaft und berufliche Praxis in der Graduiertenausbildung“ integrierten die Kollegiat*innen in ihre Promotionsvorhaben mehrmonatige Praxisphasen bei außeruniversitären Einrichtungen und Unternehmen.
Reisen und Medien sind nicht erst heute eng aufeinander bezogen. Seit Jahrhunderten halten Reisende ihre Eindrücke in Tage- und Skizzenbüchern fest. Seit es einen Printmarkt gibt, zirkulieren Reiseberichte und Reiseführer in Buchform. Im 19. Jahrhundert wurden sie zu einem enorm populären und beliebten Inhalt auch von Zeitschriften und Zeitungen. Im 20. Jahrhundert entdeckten Radio, Film und Fernsehen das Reisen als Inhalt, der für Zuhörer*innen und Zuschauer*innen attraktiv ist. Viele ältere Medien und Vermittlungsformen des Reisens sind in die sogenannten ‚neuen‘, digitalen Medien adaptiert worden. Neue netzbasierte Ausdrucksformen umfassen zum Beispiel Vlogs, Blogs, YouTube-Kanäle oder Online-Reviews.
Unter dem Einfluss der Digitalisierung hat sich das Verhältnis zwischen Reisen und Medien grundlegend gewandelt. Diese Veränderungen sowie das spannungsreiche Verhältnis von älteren und neuen Formen des Reisens und seiner Vermittlung standen im Fokus des Kollegs „Neues Reisen – Neue Medien“. Der Begriff der ‚neuen Medien‘ ist dabei nicht als trennscharf abgrenzt von den ‚alten Medien‘ oder diesen gegenübergestellt zu verstehen. Hinter der Formulierung ‚neue Medien‘ verbargen sich für das Kolleg vielmehr Thesen – es galt, die medienrelevanten Transformationen des Reisens zu untersuchen und danach zu fragen, welche Wechselwirkungen zwischen der Praxis des Reisens, den im Reisen gemachten touristischen Erfahrungen und ihren medialen Darstellungen bestehen.
Auch wenn trans- und crossmediale Vermarktungsstrategien derzeit ihren unbestrittenen Höhepunkt erreicht haben, stellen multimediale und multimodale Vermittlungsformen keine Neuerung dar, sondern fügen sich in ein historisches Kontinuum. Die digitalen Medien haben die Verbindung zwischen Reisepraxis und -vermittlung komplexer und stärker voneinander abhängig gemacht, als dies in den früheren Phasen der Mediengeschichte der Fall war. Während der diversen Übertragungsetappen – vom Manuskript zum Druck, von dort aus ins Radio, Kino und Fernsehen und schließlich zu den Online-Medien – hat sich das Erzählen von Reiseerfahrung stets an die jeweiligen Standards und Bedingungen der einzelnen Medien angepasst. Alle genannten Medien existieren nebeneinander, aber sie nähern sich auch einander an, und das Erzählen vom Reisen manifestiert sich heute als ein medienübergreifendes und -verbindendes Phänomen.
Reisen als alltägliche Praxis
Die Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie seit 2019 haben verdeutlicht, wie sehr das Forschungsthema des Kollegs lebensweltlich im 21. Jahrhundert verwurzelt ist – gerade mit seinen medialen Aspekten. In den Gegenwartsgesellschaften des globalen Nordens ist das Reisen eine Alltagspraxis von erheblicher sozialer, (trans)kultureller und wirtschaftlicher Relevanz. Stetig erweitern sich die Möglichkeiten, selbst Reiseerfahrungen zu machen – geographisch und in der sozialen Reichweite (bei allen weiter bestehenden Ungleichheiten). Es erweitern sich aber auch die Möglichkeiten, etwas über die Reisen anderer Menschen zu erfahren und die eigenen Erfahrungen zu kommunizieren.
Das digitale Zeitalter hat nicht nur die Repräsentation von Reiseerfahrung verändert und nachhaltig geprägt, sondern auch die Praxis des Reisens. So wie die traditionelle Reiseberichterstattung von den neuen Medien absorbiert wurde, hat die Veränderung der Medien und damit des kommunikativen Handelns die Praktiken des Reisens erfasst – der Wanderstab wurde gewissermaßen durch den Selfie-Stick ersetzt. Reisen bedeutet heute, vor, während und nach der Reise zu fotografieren, zu filmen, zu posten, zu bloggen, zu vloggen und online zu kommentieren.
Von Smartphone und Claude-Glas
Das Smartphone verkörpert die Annäherung von Medien und Reisepraxis besonders deutlich, weil es eine Vielzahl von Funktionen in sich vereint, die früher auf andere Reisezubehöre, wie Kameras, Reiseführer, Landkarten und Papiertagebücher verteilt waren. Das Smartphone wird genutzt, um sich über Routen und Sehenswürdigkeiten zu informieren, um Tickets und Hotels zu buchen, um Fotos und Videos für Familie und Freunde und die Accounts in den sozialen Medien zu machen, wo sie dann mit anderen geteilt werden. All dies kann innerhalb von Minuten geschehen, so dass Reisepraxis, -erfahrung, -darstellung und -vermittlung fast zeitgleich erfolgen. Das Smartphone hat aber auch eine spezifische Form der Selbstdarstellung der Reisenden – das Reise-Selfie – begünstigt, das allgegenwärtig geworden ist und nicht nur touristische Destinationen in Form von übermäßig besuchten Selfie-Spots, sondern auch die Konstruktion von Bildern und Identitäten der Reisenden stark geprägt hat.
Auch in diesem Kontext ist jedoch zu beachten, dass es eine lange Tradition ist, verschiedene Aufzeichnungsgeräte mit sich führen, um die eigene Reise zu dokumentieren und spezifische Reiseerlebnisse zu ermöglichen. Der pittoreske Tourismus um 1800 ist ein Beispiel dafür, war er doch von Anfang besonders stark mediatisiert. Diese Form des Landschaftstourismus wurde im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in England durch die Verbreitung von illustrierten Reiseführern wie William Gilpins Observations on the River Wye, and Several Parts of South Wales (1782) populär. Reisende, die auf der Suche nach dem Pittoresken waren, brachten ästhetische Erwartungen mit, die durch verbale und bildliche Darstellungen vorweggenommen wurden, und sie trugen oft ein Claude-Glas bei sich: einen Spiegel, der ihre Wahrnehmung einer Landschaftsansicht in der Art eines Gemäldes einrahmte und färbte. Natürlich waren diese Tourist*innen aber auch mit Skizzenbüchern ausgestattet, die es ihnen ermöglichten, ihre eigenen Impressionen der malerischen Orte und Aussichtspunkte spontan festzuhalten. All dies scheint Praktiken des Smartphone-Zeitalters vorwegzunehmen und die Verwendung des Claude-Glases ist direkt mit der Verwendung der Filter auf Instagram vergleichbar.
Die Liste der ‚neuen‘ Reisepraktiken, die durch und mit den digitalen Medien erst möglich wurden und sich etablieren konnten, ist lang. Innerhalb des Forschungskollegs wurde deshalb lediglich ein kleiner Teil dieser paradigmatischen Verschiebungen beleuchtet. Aber die Befunde aus den unterschiedlichen Disziplinen und Projekten sind eindeutig: Die digitalen Medien und ihre Nutzer*innen verändern Reisepraktiken fundamental, und die Erforschung dieser Neuerungen steht erst am Anfang.
Reisepraxis, Reiseerfahrung und ihre Thematisierung in Medien sind wechselseitig miteinander verbunden: Nicht nur werden Erfahrungen in Repräsentationen verarbeitet, sondern Reiserepräsentation kann Reiseerfahrung bereits vorab formen. Das Kolleg entwickelte daher maßgeblich zwei Fragerichtungen: Welche aktuellen Praktiken und Erfahrungsmöglichkeiten des Reisens gibt es? Und: Wie werden diese in einer Bandbreite von Medienformaten vermittelt?
Instagram und der touristische Blick
Die Praxis des Reisens ist ebenso wie die dabei hervorgebrachten medialen Repräsentationen historisch geformt. Der touristische Blick wird in medialen Repräsentationen beständig wiederholt und mitunter an die jeweilige Gegenwart angepasst. Die auf Instagram geteilten Bilder z. B. vor dem schiefen Turm von Pisa wiederholen die immer gleichen Posen, beispielsweise von Tourist*innen, die mit ihren Händen den scheinbar umkippenden Turm abstützen. Hier entstehen kollektiv geteilte Bildregime, die ihrerseits wiederum ihre Eigendynamiken entfalten können. Der Königssee-Wasserfall im bayerischen Nationalpark Berchtesgaden etwa entwickelte sich mit seinem Infinity-Pool zu einem Instagram-Hotspot, der immer mehr Tourist*innen anzog, die ihr Badeerlebnis über dem 70 Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfall dokumentieren wollten. Die zunehmende Vermüllung, insbesondere aber der Tod zweier junger Männer im April 2019 sorgten schließlich für ein Betretungsverbot. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich einen weiteren zentralen Aspekt der Bedeutung neuer Medien: Touristische Medien können sofort vor Ort zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in sozialen Medien geteilt werden. Sie werden mitunter massenhaft rezipiert und entfalten so Dynamiken, die nur noch schwer einzuholen sind.
Mit seiner begrenzten Anzahl von Projekten konzentrierte sich die Forschung des Kollegs „Neues Reisen – Neue Medien“ auf ausgewählte Aspekte der Verbindungen zwischen zeitgenössischem Reisen und der vielfältigen Medienlandschaft unserer Zeit. Die Ergebnisse der einzelnen Projekte dokumentieren den Einfluss digitaler Medien auf das Reisen ebenso wie die Widerstandsfähigkeit älterer Medien bei der (Re-)Präsentation des Reisens. Sie zeigen aber auch, dass die vertiefte Forschung in diesem Bereich gerade erst begonnen hat.
Abschließend sei auf das ausführliche Portrait des Kollegs „Neues Reisen – Neue Medien“ auf FreiDok plus verwiesen.