Umbrüche und Aufbrüche der Geographie(n) – ein persönlicher Tagungsbericht

Ich sitze gerade im Ruheabteil des ICEs von Kiel nach Freiburg und blicke auf bewegende Tage am Deutschen Kongress für Geographie zurück. Die Ruhe tut gut, denn in meinem Kopf konkurrieren verschiedenste Eindrücke, die es zu sortieren, verarbeiten und weiterzudenken gilt: Inspirierende Gespräche mit Wissenschaftler/innen, Anstöße für die eigene Forschung aus verschiedenen Vorträgen und die große Frage, welchen Beitrag eine geographische Wissenschaft für heutige Gesellschaften leisten kann und muss.

#conference

Kieler Hafen (eigenes Foto).

Dieses Jahr fanden sich rund 2.000 Geograph/innen, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ein, um über „Umbrüche und Aufbrüche – Geographie(n) der Zukunft“ zu diskutieren, aktuelle Forschungsarbeiten vorzustellen und sich an einer Standortbestimmung des Faches zu versuchen. Kiel hatte sich bereits vor 50 Jahren als bedeutender Schauplatz der Disziplingeschichte hervorgetan: Vor allem Studierende drängten damals auf eine Neuausrichtung des Fachs, stellten vorherrschende Paradigmen in Frage und forderten eine stärkere Ausrichtung des Fachs an Theorien sowie gesellschaftsrelevanten Themen. Was war in den vergangenen Jahrzehnten passiert? Wo befindet sich die deutschsprachige Geographie heute? Gibt es einen gemeinsamen epistemologischen Kern, der geographische Arbeiten verbindet oder verbinden muss?

In verschiedenen Vorträgen und Podiumsdiskussionen hat sich mir eindeutig gezeigt: Die Geographie ist derart ausdifferenziert wie noch nie. Das Fach hat sich für weitere Disziplinen geöffnet, neue Ansätze (feministisch, postkolonial, phänomenologisch, (radikal) kritisch, more-than-representational usw.) haben Einzug gefunden und diese adressieren vermehrt Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Eine Universaltheorie kann es nicht geben, um jegliche Positionen einzufangen. Die heutige Geographie ist – wie es im Keynote Vortrag von Carolin Schurr und Peter Weichhart genannt wurde –„multiparadigmatisch“.

Unbeantwortet blieb bis zum Schluss die Frage, wie sich Wissenschaft öffnen kann, um Forschungserkenntnisse zu gesellschaftsrelevanten Themen (Stichwort Klimawandel, Digitalisierung, Populismus und vieles mehr) in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Welche Fragen müssen gestellt werden? Welche Sprache soll für die breite Kommunikation Verwendung finde? Welche alternativen und wirksamen Formate der Wissensvermittlung kann es geben? Welche Verantwortung trägt jede/r Wissenschaftler/in?

Dieser Post stellt nur einen kleinen Bruchteil der Fragen zusammen, die kontrovers diskutiert wurden. Diese offenen Fragen und noch viel mehr nehme ich mit nach Freiburg zurück, um weiter zu reflektieren und in anknüpfende Gespräche zu kommen.

Ein Großteil der hier aufgeworfenen Fragen bezieht sich auf folgende Veranstaltungen:

  • Keynote 1, Donnerstag, 26.9.: „From margin to center? Theoretische Aufbrüche der Geographie seit Kiel 1969“ (Carolin Schurr & Peter Weichhart).
  • Festvortrag im Zuge der Kongresseröffnung, Donnerstag, 26.9.: „Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft“ (Prof. Latif).
  • Sonderveranstaltung Fachsitzung 2, Freitag, 27.9.: „Welchen Beitrag liefert Gesellschaftstheorie heute für eine kritisch-engagierte Geographie“ (Podiumsdiskussion mit Iris Dzudzek, Susanne Heeg, Shadia Husseini de Aráujo, Jan Simon Hutta, Benedikt Korf, Sarah Klosterkamp, Boris Michel, Marit Rosol).