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Wert durch Verfall? Lost Places als Tourismusziele

Im Rahmen der Exkursion „Lost and found: Materialität, Wert und Wandel“ besuchte ich mit meiner Kollegin Damaris Müller und 18 Studierenden des B.A.- und M.A.-Studiengangs Kulturanthropologie am 15. Juli 2022 das ehemalige Hotel „Waldlust“ in Freudenstadt. 

Seit 2005 steht der große Bau leer und zeugt in seinem Verfall vom Niedergang der Kurbetriebe und vom Wandel des touristischen Raums Schwarzwald. Doch gerade in diesem Zustand wurde das Hotel „Waldlust“ primär über das Internet zur populären Destination und zählt heute zu den bekanntesten Lost Places Deutschlands. Auch Spukgeschichten und Legenden ranken sich um das Gebäude, die sich in Online-Zirkulationen eingeschärft haben und heute ebenfalls Erfahrungen und Repräsentationen der „Waldlust“ prägen.

Der lokale Verein der „Denkmalfreunde Waldlust“  setzt sich seit Jahren für den Erhalt der Bausubstanz ein. Außerdem ist es den Vereinsmitgliedern ein Anliegen, das für die Entwicklung Freudenstadts wichtige Gebäude wieder mit Leben zu füllen. Diesem Vorhaben kommt die Popularität des Orts als Lost Place scheinbar zugute und in Angeboten und Events wird auf die bestehende Nachfrage reagiert. Doch die Entwicklung birgt auch Risiken: Vandalismus und Einbruch werden zu konstanten Erscheinungen, Wertigkeiten und Deutungen kulturellen Erbes sind für die Vereinsmitglieder nicht zwingend die gleichen, wie für viele Besuchende, die auf die „Waldlust“ im Internet gestoßen sind.

Welche Spannungen sich angesichts dieser unterschiedlichen Auffassungen auftun und inwieweit der Verein in der Verfallsästhetik der „Waldlust“ eine Ressource für ihren Erhalt vorfindet, haben wir nach einer Besichtigung der Räumlichkeiten im ehemaligen Festsaal des Hotels mit Vereinsmitgliedern und Öffentlichkeit diskutiert. Ich steuerte zudem einen Vortrag zur Faszination an verlassenen Orten und ihrer gegenwärtigen Rolle im Tourismus bei.

Der herzliche Empfang der Denkmalfreunde und die festliche Bewirtung wird uns in Erinnerung bleiben – ebenso die einzigartige Atmosphäre eines Orts, an dem sich die Tapeten abschälen und der Putz bröckelt, in dem aber gleichzeitig übernachtet werden kann, Events und Ausstellungen stattfinden, in dem manche Räume beheizbar sind und in anderen die Decke einbricht und die deshalb tausendfach fotografiert werden.

Die Südwestpresse berichtete:

Bernhard, Dunja: Der Reiz des Morbiden, in: Neckar Chronik (21.07.2022)

Kann aus Verfall eine neue Wertigkeit entstehen? Dieser Frage geht der Kulturanthropologe Uwe Baumann seit einigen Jahren nach. Dabei kam er vor rund vier Jahren auch in die Waldlust nach Freudenstadt.

Denn dem ehemaligen Grandhotel wird auf etlichen Lost Places-Plattformen im Internet viel Aufmerksamkeit zuteil. […] Verlassene Orte üben auf Menschen, die Dunkles, Morbides und dem Verfall Überlassenes suchen, eine große Anziehungskraft aus. Den Urban Explorern, auch Urbexern genannt, geht es darum, auf eigene Faust „authentische Orte“ zu durchstöbern und fotografisch zu erforschen. Das Verbotene, nur illegal zu betreten, erhöht den Reiz. Auch von der „Waldlust“ und ihren paranormalen Phänomenen kursieren zahlreiche Fotos im Internet. Das Gebäude erlangte so deutschlandweite Bekanntheit. Zum Kultstatus des einst als Lazarett genutzten Hauses trug die Legende um Adele B. bei. Die Hotelinhaberin wurde 1949 in ihrem Zimmer ermordet. Seitdem spuke sie durchs Haus. Seit den 1960er Jahren gilt die „Waldlust“ als Spukhotel. „Gäste rochen Moder und hörten nächtliches Türenknallen.“ Ihre Interpretation dieser Phänomene, es müsse sich um Geister handeln, sei beeinflusst von der Geschichte, die sie über das Hotel gehört hatten, sagt Baumann. Diese paranormalen Phänomene ließen sich mit ganz normalen Umständen erklären.

Gepuscht wurde der Ruf als Gruselhotel 2020 durch das Horrorcamp, das dem Streamingdienst Twitch einen Zuschauerrekord im deutschsprachigen Raum verschaffte. […]

Ruinenbilder faszinierten seit der Romantik, so Baumann. Sie symbolisierten ein Zwischenstadium zwischen Menschlichem und Natur. „Leerstellen der Information werden mit Vorstellungen gefüllt.“ So entstehen Geschichten und Legenden als Flucht aus der Gegenwart. „Lost Places zeigen, wie die Welt ohne uns aussehen könnte.“

Urban Explorer richten in verlassenen Gebäuden keinen Schaden an, randalieren nicht.

Ihr Ziel sind spektakuläre Fotos, auch von Geistern und unerklärbaren Erscheinungen. Die „Waldlust“ unterscheidet von anderen Lost Places, dass sie nicht illegal erkundet werden muss. Urbexer ziehe hier nicht der Ort an, sondern die Stimmung. „Sie wollen die Atmo- sphäre spüren und Bilder davon medial verbreiten.“

Lässt sich diese Art der Bekanntheit mit der Pflege des Denkmals vereinbaren? „Die Denkmalfreunde zeigen einen weitgefassten Kulturdenkmalbegriff “, meint Baumann. Vereinsmitglied und Denkmalschützer Siegfried Schmidt sagt dazu: „Ein Denkmal muss sich zeigen, damit es nicht vergessen wird.“

Der Kulturanthropologe betont: Die Waldlust hätte ohne den Denkmalverein ein anderes Schicksal erfahren. „Wenn es den Verein nicht gäbe, wäre das Haus nicht das, was es ist.“ Denn 2005 endete der Hotelbetrieb mit ungewisser Zukunft für das Gebäude, das die Keimzelle für den Tourismus in Freudenstadt war.

Baumann verwies auf einst florierende gastronomische Betriebe im Schwarzwald, die dem Verfall preisgegeben sind, weil sich keine Nachfolgenutzung fand. Die „Denkmalfreunde Waldlust“ haben das einstige Urlaubsdomizil für die internationale High Society zu einer Event-Location gemacht, die finanzielle Mittel für ihren Erhalt erwirtschaftet. „Der Verein ist Garant für den Bestandsschutz“, so Baumann.

Von den Vereinsmitgliedern wollte er wissen: „Stört das Spukhotel-Narrativ oder ist es eine Chance für das Hotel?“ Da gehen die Meinungen innerhalb des Vereins auseinander, erfuhr er. Das oberste Ziel sei, das Haus zu erhalten, sagte Vereinsvorsitzender Herbert Türk. Der Verein versuche die Balance zu halten.

[…]

Die Spukgeschichten passten nicht zu der neuen Ausrichtung als Ort für Kunst, Kultur und Veranstaltungen mit gastronomischem Angebot und Übernachtung. Türk möchte „keine paranormalen Erscheinungen dokumentiert haben“. Das Haus gehört einem Eigentümer, der sich kaum um den Erhalt kümmert, aber den Denkmalfreunden viele Freiheiten gewährt. Das Projekt „Waldlust“ erhält keine öffentlichen Fördermittel. Filmproduktionen oder Buchungen von Geisterjägern bringen Einnahmen, die der Verein für Renovierungsarbeiten und Event-Equipment einsetzt.

Die fehlende Förderung bringt aber auch Vorteile. „Wir dürfen interpretieren, sind kein Museum“, sagt Türk. Mehr kulturelle Angebote in der Waldlust und die Verbreitung der historisch belegten Geschichte könnten dem Spukort seinen Reiz nehmen. Doch diese Richtung, die mit dem Wegfall einer wichtigen Einnahmequelle verbunden wäre, könne nur gelingen, wenn andere Geldgeber wie Stadt oder Land gefunden werden. Die Stadt lehnte den Erwerb des Gebäudes für den Angebotspreis von 1,5 Millionen Euro ab. Viele Freudenstädter hielten das Gebäude für verloren, sagt Schmidt. Handwerker meinten, es sei nicht zu erhalten. Diese Ansichten „springen in die öffentliche Meinung über“. Es sei sehr schwierig, die Bevölkerung hinter sich zu bringen. „Wir werden belächelt.“ Veranstaltungen sollen helfen, das Bild des Hauses zu verändern.